Expedition

Die Bacchus-Rebe von Schloss Ollwiller

1849

Das Schloss Ollwiller

1849 promovierte der 25-jährige Georges Louis Grandidier an der Universität Straßburg zum Doktor der Botanik und Agrarwissenschaften. Mangels bedeutender Beziehungen sah er sich anschließend gezwungen, eine wenig prestigeträchtige Stellung als Provinzlehrer anzunehmen, an der nahe gelegenen, gerade neu gegründeten Landwirtschaftsschule Haut-Rhin auf dem Weingut Schloss Ollwiller.
Seine anspruchslose Lehrtätigkeit langweilte ihn, Ablenkung fand der passionierte Forscher in den Archiven des Schlosses – und bei Claire, der bezaubernden Tochter des Schlossherren…

Doch eines Tages erkrankte Claire schwer, kein Arzt wusste ihr zu helfen. Ihr Zustand verschlechterte sich zusehends, Georges’ Verzweiflung wuchs. Fieberhaft suchte er nach einem Weg, sie zu heilen. Schließlich ließ er sogar seine rigorose wissenschaftliche Skepsis beiseite: Im Archiv des Schlosses war er immer wieder auf Berichte aus verschiedenen Jahrhunderten gestoßen, die von einem mysteriösen, wunderwirkenden Wein sprachen, der von Zeit zu Zeit auf Ollwiller gekeltert worden sei. Er könne Leben schenken – jedoch ebenso den Tod bringen.

Hatte er dies bislang für eine kuriose Legende gehalten, so wollte er nun, in seiner Verzweiflung, nichts unversucht, keine Spur unverfolgt lassen. Mithilfe alter Pläne aus dem Archiv drang er in ein Kellergewölbe tief unter dem Schloss vor.

Dort bot sich ihm ein unwirklicher Anblick: Vor ihm lagen die Ruinen eines uralten Tempels. In ihrer Mitte gedieh auf wundersame Weise ein Rebstock. Obwohl kein Sonnenstrahl je hierher vordringen könnte, wuchs frisches, grünes Laub daran und er war üppig mit Trauben behangen. Georges kam eine ungeheuerliche Ahnung: Sollte er die Rebe des Bacchus gefunden haben?

„Die Fachwelt hat sie stets als Mythos abgetan. Dennoch kannte an der agrarwissenschaftlichen Fakultät freilich ein jeder die Geschichte von der göttlichen Rebe, welche die Römer vor 2000 Jahren ins heutige Elsass gebracht haben sollen“,

schrieb Georges viele Jahre später in einem Brief an den Adventure Club of Europe.

„Auf dass der Weinbau auch hier gedeihe, errichteten sie dem Bacchus einen Tempel, ihrem Gott des Weines, der Vitalität, der Künste, der Ekstase, aber auch des Wahnsinns. Dort pflanzten sie einen Rebstock, der aus dem Heiligtum des Gottes in Rom stammte. Trank ein Priester im richtigen Maße von dessen Wein, so schenkte Bacchus ihm Lebenskraft, Inspiration und schöpferische Energie. Verfehlte man jedoch die rechte Dosis und trank zu viel davon, so verfiel man dem Wahnsinn.“

Georges kam zu dem Schluss, dass das Schloss auf den Ruinen eben dieses Tempels erbaut worden sein musste. Die göttliche Rebe des Bacchus hatte die Jahrhunderte überlebt und war wohl gelegentlich auch verwendet worden. Daher die Berichte über den Wein, der Leben spendet, aber auch zu tödlicher Raserei treiben kann.

Georges kelterte Wein aus der Rebe, den wohlschmeckendsten, den er je gekostet hatte. Bevor er ihn Claire zu trinken gab, verdünnte er ihn allerdings mit Wasser und Eis: So konnte sie genesen, ohne in einen tödlichen Wahnsinn abzustürzen.Die beiden heirateten, Georges wurde schließlich zum Direktor der Landwirtschaftsschule. So lag es in seiner Hand, die Rebe des Bacchus Zeit seines Lebens behüten. Er machte seine Entdeckung nie öffentlich, da sie ihm zu gefährlich erschien.

Erst gegen Ende seines ungewöhnlich langen Lebens – die Rebe verlieh zwar besondere Lebenskraft, aber keine Unsterblichkeit – begann er, sich Sorgen darum zu machen, wie sie nach seinem Tod sicher verwahrt werden könnte. Über Gelehrtenkreise kam er in Kontakt mit Mitgliedern des ACE und schrieb dem damaligen Präsidenten einen langen Brief, in dem er seine Entdeckung schilderte und den ACE bat, sie von nun an zu bewachen.Übrigens erzählt man sich im ACE, dass Dr. Georges Louis Grandidier die göttliche Rebe nicht einfach nur verwahrt, sondern mit ihr experimentiert habe. Er soll sie mit gewöhnlichen Rebsorten gekreuzt haben, um ihre heilsamen Effekte nutzbar zu machen und zugleich ihre Gefahren zu bannen. In der Tat sagt man dem „Grand Cru Ollwiller“ auch heute noch nach, dass sich sein Genuss besonders belebend und inspirierend auswirke…