Expedition

Das Geisterauto von Waldkirch

1957

Die Glasscherben des zerbrochenen Schaufensters glitzern im Mondlicht. Aufgebracht kommt Familie Börschig aus ihrer Metzgerei auf die Straße gelaufen.
„Es hat wieder zugeschlagen“, flüstert eine Nachbarin, die den Kopf aus dem Fenster streckt. „Es ist wieder da.“
In der Ferne heult ein Motor auf, die Kinder verstecken sich hinter ihrem Vater.
Dann wird es still.

Es trug viele Namen seit es Ende der 1950er Jahre in Waldkirch und Umgebung sein Unwesen trieb. „Höllenschüssel“, „Teufelskiste“ oder „Geisterauto“ wurde es genannt. Doch was verbirgt sich hinter diesen sagenhaften Bezeichnungen? Um zu verstehen, was es mit einem der größten Mythen der jüngeren Schwarzwaldgeschichte auf sich hat, müssen wir ein wenig in der Zeit zurück reisen.

Denn alles begann an einem sonnigen Tag im Herbst 1957. Genauer gesagt am 12. Oktober. Zum achten Geburtstag bekam das heutige ACE-Ehrenmitglied Roland Mack ein ganz besonderes Geschenk: Ein ausrangiertes, kleines Benzinauto, das von einem der ersten „Autoskooter“ stammte, welche die Firma Mack seinerzeit baute und die heute als Vorgänger der beliebten Go-Kart-Bahnen gelten. Wochenlang hatte sein Vater Franz Mack daran herum geschraubt, um das ausrangierte Gefährt wieder auf Vordermann zu bringen. Sogar einen stärkeren Motor hatte er eingebaut, um seinem rennbegeisterten Sohn eine besondere Freude zu machen.
Und das Geschenk erzielte seinen Effekt: Der junge Roland und sein Auto waren unzertrennlich. Jeden Tag fuhr er damit so weit wie es der Treibstoff zuließ und er entwickelte einen großen Traum: Er wollte Rennfahrer werden.

Soweit die Überlieferung. Doch was dann geschah, darüber scheiden sich die Geister. Aus unterschiedlichen Varianten der Sage, die über die Jahrzehnte von Bewohnern Waldkirchs verbreitet wurden, hat Sagenforscher Fritz Erchinger im Auftrag des Adventure Club of Europe in aufwändiger Arbeit den wahrscheinlichsten Ablauf der Geschehnisse rekonstruiert: Eines Nachts, die Familie Mack schlief tief und fest, wurde der junge Roland von einem Motorengeräusch geweckt. Ungewöhnlich für die Gegend Ende der 50er Jahre. Er ging ans Fenster und sah mit aufgerissenen Augen, wie das Benzinauto aus dem Gartenschuppen schoss und in der Dunkelheit verschwand.
An einen Diebstahl glaubend, erkundete Roland mit einer Taschenlampe die Umgebung, doch fand sein Auto nicht mehr. Enttäuscht und erschöpft legte er sich wieder schlafen, nur um das Auto am nächsten Morgen wieder im Gartenschuppen vorzufinden. Was war geschehen? Hatte es jemand heimlich entführt? Oder hatte er womöglich alles nur geträumt?

In der folgenden Zeit mehrten sich die Gruselgeschichten über ein angebliches Auto, das des Nachts Waldkirch unsicher mache. Die am weitesten verbreitete Bezeichnung „Geisterauto“ ließ sich vor allem auf Berichte von Augenzeugen zurückführen, die felsenfest behaupteten, das Auto sei völlig führerlos durch die Straßen gefahren.

„Meine Oma sagte, es sei wie ein Werwolf gewesen“, schrieb einst der aus der Gegend stammende Autor Willi Thoma über das Phänomen. „Es kam nur raus im Mondschein. Es hatte seinen eigenen Willen. Als ich einmal nicht schlafen konnte, habe ich es vor unserem Haus gesehen. Und ich schwöre, es fuhr komplett allein.“

Wieder andere machten laut Sagenforscher Erchinger die Hexe Gfällrote für den Spuk verantwortlich, die einer Sage nach im Schwarzwald rund um den Kandel ihr Unwesen trieb. „Des hat die Gfällrote verhext, hat mein Onkel immer gesagt“, gab der ehemalige Schuster Hans Streich laut Recherchen in einem Radiobeitrag in den 90er-Jahren einmal lachend an.

Roland Mack selbst schweigt zu den Legenden, die sich um sein einstiges Gefährt ranken.
„Da kann ich mich gar nicht mehr so genau dran erinnern“, erklärte er auf Nachfrage augenzwinkernd am Rande einer Veranstaltung des Adventure Club of Europe im Sommer 2017. Doch in einem Interview, das Herr Mack in den 70er Jahren kurz nach Eröffnung des Europa-Parks führte, wurde Erchinger schließlich fündig. Darin beschrieb der 30-jährige Roland seinerzeit wie er dem Geheimnis des Geisterautos schließlich auf die Schliche kam.

Nachdem er Nacht für Nacht beobachtete hatte, wie sich sein Auto ohne Fahrer selbstständig machte, stieß der junge Roland in einer alten Familienbiographie auf ähnliche Erlebnisse, von denen Paul Mack um das Jahr 1800 herum berichtet hatte. Der Gründer der Firma, die sich heute „Mack Rides“ nennt, beobachtete damals, wie sich ein von ihm in der Freizeit gebautes mechanisches Karussell nachts wie von selbst drehte.
Nach langer Recherche fand Roland Mack schließlich heraus, dass sein Vater Franz zur Restauration des Benzinautos alte Bauteile der Familienfirma verwendet hatte. Darunter eine Spule, die einer Legende nach aus dem ersten Karussell der Familie stammen sollte.
Roland Mack begann am Auto herumzutüfteln, was, wie er später beschrieb, erstmals seine Leidenschaft für Maschinenbau und Ingenieurwesen weckte. Doch bevor er die Spule fand, wurde es dunkel. Mit dem jungen Roland auf dem Fahrersitz erwachte das Auto wie von Geisterhand zum Leben und bretterte durch Waldkirch. Es nahm Kurs auf das Bäckereischaufenster und ein Aufprall schien unausweichlich. Doch im letzten Moment schaffte es der 8-jährige Roland das Fahrzeug zu bändigen. Er entfernte die Spule und erlangte somit die Kontrolle über das Auto zurück.
Von einem Tag auf den anderen endete so der Spuk um das Geisterauto von Waldkirch, das bis heute unvergessen ist.

Nach einem Umzug der Familie Mack blieb das Auto einige Zeit später in der alten Fabrik unterhalb der Kastelburg zurück. Über die Jahrzehnte geriet es in Vergessenheit, bis es schließlich von der Bildfläche verschwand. Doch Roland Mack hatte dem Gefährt viel zu verdanken. Sein Interesse für Maschinenbau verband sich in ihm symbolisch mit der Leidenschaft für rasante Fahrten, was sich schließlich in der Konstruktion von unzähligen aufregenden Achterbahnen niederschlug.

Erst im Jahr 2019 kam es erneut zu einer überraschenden Wende in der Geschichte rund um das Geisterauto von Waldkirch. Im Musée des Arts Forains wurde es von Rolands ältestem Sohn Michael Mack wiederentdeckt.

Anlässlich seines 70. Geburtstag kam es so endlich zur Wiedervereinigung zwischen Roland Mack und dem sagenumwobenen Gefährt aus seiner Kindheit.

Heute ist der Adventure Club of Europe stolz, verkünden zu dürfen, dass Roland Mack dem ACE das historische Benzinauto als Ausstellungsstück zur Verfügung gestellt hat.


Und auf die Frage, ob er die alte Spule von Paul Mack noch besäße, antwortete Roland anlässlich der Übergabe des Autos nur augenzwinkernd:

„Warten wir doch einmal bis es Nacht wird. Wenn im Mondschein von Rust ein ungewöhnliches Motorheulen erklingt, wissen wir, ob der Spuk weitergeht.“