Expedition

Der Troll aus der Grønligrotta

1986

Es war ein lauer Sommerabend in der beschaulichen Kleinstadt Mo i Rana, Norwegen, als die beiden Freunde Kjell und Morten gelangweilt mit dem Fahrrad durch die gähnend leeren Straßen fuhren. „Lau“ – das bedeutete einige Meter südlich des Polarkreises natürlich nicht mehr als 13 oder 14 Grad, war aber gerade ausreichend für die beiden Jugendlichen, um den Sommer auch im T-Shirt zu genießen. Das Wetter war also nicht das Problem. Es war die Langeweile. Sie kannten jede Straße, jeden Stein, jeden Laden, jeden Verein. Es gab nichts Neues mehr zu entdecken.
Noch zwei Jahre fehlten ihnen bis zu ihrem Schulabschluss 1986 – noch zwei Jahre bis sie endlich hier wegkonnten. Wohin? Egal. Einfach dahin, wo es mehr zu erleben gab als hier.

Dass Kjell Henriksen und Morten Holm viele Jahre später als bekannte Höhlenforscher und Mitglieder des ACE Geschichte schreiben sollten, hätte man den beiden schmächtigen Jungen Anfang der 80er Jahre wohl kaum zugetraut. Doch in den beiden brannte schon damals der Entdeckergeist. Als sie am Ortsrand das Wegschild zur bekannten Höhle Grønligrotta sahen, bekamen sie plötzlich eine Idee. Zwar hatten ihnen ihre Eltern verboten, alleine zur Höhle zu fahren, doch insgeheim waren die beiden schon immer fasziniert gewesen von der vier Kilometer langen Kalksteinhöhle, die in der Nähe ihres Heimatorts lag und um die sich viele Mythen und Legenden rankten.
Und wie jeder Abenteurer weiß: Langeweile gepaart mit Neugier ergibt eine explosive Mischung. Die beiden entschlossen sich, heimlich in der Nacht von zu Hause aufzubrechen und mit Proviant, Schlafsack und Taschenlampe die sagenumwobene Höhle endlich auf eigene Faust zu erforschen. Als sie den Schacht zur Höhle hinabstiegen, war ihnen zwar doch etwas unwohl, aber bis hierhin ging der Plan auf. Begeistert erkundeten sie die Kalksteingänge und stießen schließlich auf einen von Stalaktiten und Stalagmiten übersäten unterirdischen Raum.

Es war fast wie eine Kathedrale. Als 16-Jähriger hatte ich so etwas Schönes noch nie gesehen. Und was mir in diesem Moment die Augen öffnete, war der Gedanke daran, dass es schon mein ganzes Leben lang hier verborgen gewesen war. Quasi unter den langweiligen Straßen meiner Heimatstadt verborgen. Ich fragte mich, was für unterirdische Geheimnisse diese Welt noch zu bieten hat. Unberührte Orte, die nur darauf warten, vom menschlichen Auge erblickt zu werden.

– Kjell Henriksen

Euphorisch drangen die Jugendlichen immer tiefer in die Höhle vor, bis sie zu einem unterirdischen Fluss gelangten. In ihrem Leichtsinn entschlossen sich die beiden, ihn ohne Sicherung zu überqueren. Und es kam wie es kommen musste: Eine der instabilen Kalkbodenplatten löste sich unter ihren Füßen und sie wurden vom Fluss durch einen Schacht hunderte Meter in die Tiefe gerissen. Als sie wieder zu sich kamen, war es stockduster. Sie hatten ihre Rucksäcke und Taschenlampen bei der lebensgefährlichen Rutschpartie verloren. Doch immerhin: Sie waren am Leben. Panisch tasteten sie sich durch die dunklen Höhlen, doch sich zu orientieren war unmöglich. Langsam dämmerte ihnen, was das bedeutete: Sie waren verloren.

Gerade, als ich kurz davor war in Tränen auszubrechen, erblickte ich einen Lichtfunken in weiter Ferne. Ich dachte schon, ich halluziniere. Doch er wurde immer größer. Auch Kjell nahm ihn schließlich war. Wir riefen nach Hilfe, doch niemand rief zurück. Je näher das Licht kam, desto mehr wuchs unsere Angst. Und dann erblickten wir ihn: Södtjofsvörnson.

– Morten Holm

Der Schein seines Stabes beleuchtete sein faltiges Gesicht. Er war vielleicht einen Meter groß und blickte die Jungen eindringlich an.

Er sagte uns, wir seien zu tief in seine Heiligtümer eingedrungen und dass er uns auf der Stelle verzaubert hätte, wenn er nicht die aufrichtige Angst in unseren Gesichtern erblickt hätte. Wenn wir nicht wie er für immer hier unten bleiben wollten, wäre es ratsam schnell wieder zu verschwinden. Wir bettelten ihn an, uns nichts zu tun und uns einfach nur den Weg hinaus zu zeigen. Er hob seinen Stab und ein grelles Licht blendete uns. Dann wurde alles schwarz.

– Kjell Henriksen

Als die Jugendlichen zu sich kamen, fanden sie sich an der Erdoberfläche wieder. In einer Mischung aus Schock und Begeisterung liefen sie nach Hause. In den folgenden Wochen verschlangen sie alle Berichte und Legenden über die Höhle und stießen immer wieder auf Erzählungen eines alten Trolls, der in der Grønligrotta hausen solle. Andere mittelalterliche Quellen berichteten von Södtjofsvörnson, einem alten Mann, der sich laut einer Sage vor hunderten von Jahren in die Höhle zurückgezogen hatte, um mit magischen Kristallen zu experimentieren. Das musste er sein – da waren sich Kjell und Morten bald sicher.
Natürlich hielten es ihre Eltern, Lehrer und Freunde für ausgemachten Humbug, doch die beiden wussten es besser: Schließlich hatten sie ihn gesehen. Und er hatte ihnen das Leben gerettet. Damit war ihre Leidenschaft für das Übernatürliche und die Höhlenforschung geboren. Und heute, mehr als 30 Jahre später, weisen Kjell und Morten eine beachtliche Bilanz vor: Denn ein Großteil der in den letzten Jahrzehnten entdeckten Höhlensysteme nördlich des Polarkreises wurden von den beiden gefunden und kartographiert. Und auch, wenn sie Jahre später als professionelle Forscher in die Grønligrotta zurückkehrten – Södtjofsvörnson fanden sie nie wieder.

Es heißt, er helfe nur denjenigen, die sich naiv und unüberlegt in Gefahr begeben – und dafür sind wir mittlerweile bei weitem zu professionell. Obwohl … Kjell vielleicht noch eher als ich (lacht).

– Morten Holm