Die Sonne des Nachtmeers
2009
Als die Isländische Archäologin und Sporttaucherin Sonja Gudridsdottir die Statue vom Seetang befreit und wieder an der Wasseroberfläche aufgetaucht war, pochte ihr Herz. Es bestand kein Zweifel: das Wrack, das tief unter ihr am Meeresgrund verrottete, war das Schiff ihres hochverehrten Professors und Doktorvaters Hans Hoas! Gleichzeitig bedeutete dies jedoch auch, dass seine Expedition ins Nordmeer vor einem Jahr tatsächlich gescheitert war – was erklärte, dass man seit so langer Zeit nichts mehr von ihm gehört hatte. Allein, seine Leiche war nicht an Bord. Womöglich trieb sie irgendwo in den Untiefen. Sonja schauderte. Sie kannte die Statue aus den Aufzeichnungen des Professors nur allzu gut. Es war die Statue der Meeresgöttin Ran, welche auf der Tre Kronor, einem königlichen Schiff, das einstmals aufbrach, um die Quelle des Lebens zu finden, hätte sein sollen.
Aus alten Überlieferungen hieß es, dass die Statue als Talisman diene, um die Meeresgöttin bei Überfahrten zu besänftigen. Durch einen schusseligen Adjutanten, einen überforderten Kapitän oder einfach bloß aufgrund von Gedankenlosigkeit hatte man damals vor vielen Jahrhunderten bei einer Expedition die Statue im Hafen vergessen. Das Schiff sank und ward nie mehr gesehen. Man machte das Fehlen der Statue dafür verantwortlich, da man glaubte, dass ohne sie kein Schutz vor der Meeresgöttin gegeben war. Was die Sache für Sonja jedoch mysteriös machte, war, dass das Schiff des Professors gesunken war, obwohl er die Statue an Bord gehabt hatte! Die Statue umklammernd rief sich Sonja nochmals ins Gedächtnis, was sie in alten Schriften über Ran gelesen hatte:
„…Tagsüber ritt der Riese Dag über den Himmel und ließ das Wasser der Weltmeere im Widerschein seines Rosses Skinfaxi funkeln, dessen glühende Mähne die Welt mit ihrem Glanz erleuchtete. Des nachts jedoch herrschte Schwärze in den Untiefen der Meere und viele Seeleute gaben ihr Leben.
Die Meeresgöttin Ran herrschte mit ihrem Mann Aegir über die Meere und nahm die Ertrunkenen in ihr Totenreich auf. Immer wieder überlegte sie, wie sie den Glanz der Sonne festhalten könnte, sodass ihre Ozeane auch nachts leuchteten. Das Gold der Menschen übte mit seinem Funkeln eine große Faszination auf Ran aus und schien ihr zu diesem Zwecke wie gerufen.
So kam es, dass Ran irrfahrenden Abenteurern das Versprechen gab, ihnen das Leben zu schenken, wenn diese im Gegenzug all ihre Schätze dem Meer übergaben.
Ran hortete ihre Schätze am Meeresgrund und das Leuchten des Meeres, welches von Rans Gold des Nachts erzeugt wurde, die glitzernden Schaumkronen, die ihre 9 Wellentöchter trugen und die gleißend helle nächtliche Gischt, war bald als „Meresvlam“ bekannt. Manche nannten es auch „Rans Sonne“ oder „Sonne des Nachtmeers“.“
Am Morgen des 10. August 2009 startete Sonja mit ihrem Motorboot. In einer wasserdichten Geldkassette hatte sie ein paar Habseligkeiten, Geld und eine goldene Uhr nebst Aufzeichnungen des Professors gefunden, die sie nun mitsamt der Statue in einer Kiste an Deck verstaute.
Sonja schlug den Kurs ein, den der Professor in seinen Notizen erwähnt hatte. Es war eine ruhige, von Sonne beschienene Fahrt und sie war guter Dinge. Als jedoch die Nacht heraufzog und die ersten Polarlichter über dem Wasser zu tanzen begannen, zog ein Sturm auf, wie ihn Sonja noch nie erlebt hatte. Wie ein Ping-Pong-Ball wurde das Schiff von den Wellen hin und hergeworfen, Wassermassen ergossen sich auf das Deck.
„Ich versuchte mich gerade mit aller Kraft an einem Schiffstau festzuhalten, als das Boot in die Tiefe gezogen wurde. Es war wie ein Sog von unvorstellbarer Kraft, ja, beinahe, als sei das Wasser zum Leben erweckt worden. Im nächsten Moment setzte das Boot unsanft auf. Die Kiste mit der Statue wurde durch das Wasser geschleudert und knallte gegen die Reling. Durch den Aufprall öffnete sie sich und die Statue fiel heraus. Schon im nächsten Moment erhob sich vom Meeresgrund eine riesenhafte, fast durchsichtige Gestalt und funkelte mich herausfordernd an. Erst jetzt sah ich, dass alles ringsumher erleuchtet war. Der ganze Meeresboden war bedeckt mit Gold, das leuchtete wie die gleißende Sonne. Und dann sah ich ihn! Professor Hoas trieb angebunden an eine Ankerkette mit leblosen Augen im Wasser. Doch direkt hinter ihm standen andere Menschen mit ebenso ertrunkenen Augen und bewegten sich dennoch wie lebendig – einige tranken Met, andere tanzten sogar! Da fiel es mir wie Fischschuppen von den Augen! Es hieß, dass Ran Irrfahrern das Leben schenkte, wenn diese im Gegenzug all ihre Schätze übergaben. Doch dies hieß nicht automatisch, dass sie nicht dennoch ertrinken konnten! Hatten sie jedoch ihren Tribut gezahlt, so gewährte ihnen Ran ein Leben in ihrem Totenreich, inmitten ihrer Reichtümer!
Augenblicklich riss ich mir meine Kette vom Hals, zog meine Ringe von den Fingern und reichte sie Ran dar. Ran sah mich prüfend an. Panisch erinnerte ich mich der Habseligkeiten von Professor Hoas, fischte die Geldkassette aus der Kiste und warf Ran das Geld und die Uhr des Professors vor die Schwanzflosse. Die Luft wurde mir nun bedrohlich knapp! Ran seufzte bedächtig und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Aus den Augenwinkeln konnte ich plötzlich einen hellen Schein erkennen, der zuvor nicht dagewesen war. Ich drehte mich um und sah, dass die Statue zu leuchten begonnen hatte. Hastig schwamm ich zu ihr hin und umklammerte sie. Ebenso schnell wie ich unter Wasser gezogen worden war, wurde ich nun von der Statue an die Wasseroberfläche katapultiert. Aus den Augenwinkeln konnte ich gerade noch erkennen, dass sich die Ankerkette von Professor Hoas‘ Knöchel löste und es schien mir, als winkte er mir zum Abschied.“
Wie wir dank Sonjas lebensgefährlichem Einsatz heute wissen, hätte die Statue wohl auch Professor Hoas gerettet. Doch der Geiz war ihm schließlich zum Verhängnis geworden. Nicht der schnöde Mammon war es, den man mithilfe der Statue fand, sondern Erkenntnisse, die von unschätzbarem Wert waren – denn nur, wer bereit ist, auch etwas von sich zu geben, erhält am Ende Ruhm und Weisheit.