Balthazar

Mitglied seit 1796

In ein altes Adelsgeschlecht hineingeboren, war Balthazar ein Träumer, ein Romantiker, ein Abenteurer. In jungen Jahren schloss er sich dem Adventure Club of Europe an und bereiste die ganze Welt. Eilte ihm auch der Ruf eines Exzentrikers voraus, eines Freigeists, eines Libertins, so verkehrte er doch in den höchsten Kreisen, denn er wusste mit seinem Charme, seiner Eloquenz und seinem Wissen über Philosophie, Wissenschaft und die Künste die Menschen für sich zu gewinnen.

Balthazar genoss das Leben in vollen Zügen. Man traf ihn bei allen gesellschaftlichen Anlässen. Seine Leidenschaft galt dem Schönen und er hatte einen exquisiten Geschmack, trank die teuersten Weine, aß die erlesensten Speisen, besaß edle Kunstwerke. Er liebte das Theater und zog bis spät in die Nacht mit Schauspielern, Künstlern und Dichtern durch die Straßen von Paris. Balthazar verliebte sich oft und leidenschaftlich, brach unzählige Herzen und litt noch häufiger selbst an gebrochenem Herzen.

Doch dieses mondäne Leben endete jäh: An seinem 30. Geburtstag, während eines rauschenden Fests zu seinen Ehren, verschwand Balthazar spurlos aus seinem eleganten Pariser Stadt-Palais.

Niemand wusste, wo er war. In der hohen Gesellschaft kursierten die wildesten Gerüchte. Allein seine engsten Weggefährten aus dem ACE kannten die Wahrheit: Balthazar hatte sich auf den Landsitz seiner Familie zurückgezogen, in einen entlegenen Landstrich zwischen den Hängen des Schwarzwalds und den Ufern des Rheins. Weshalb, erklärte er in einem Brief, der sich heute im Archiv des ACE befindet:

„Ich bin all dessen so überdrüssig. Der Luxus, die Feste, all die oberflächlichen Zerstreuungen – es fühlt sich so leer an! Ich hatte gehofft, im Rausch, in der Ekstase Zugang zu einer höheren Stufe des Seins zu finden. Zu einer anderen Wirklichkeit. Welch Irrtum! Dennoch bin ich überzeugt, dass es etwas Größeres gibt, jenseits unserer Welt. Eine tiefe Sehnsucht zieht mich dorthin. Von nun an werde ich in der Ruhe und Abgeschiedenheit nach dem suchen, was ich jahrelang in der Ausschweifung nicht zu finden vermochte.“

In einem späteren Brief gibt sich Balthazar zuversichtlich:

„Meine Bücher sind gekommen! Seltene Bände, die uraltes Geheimwissen enthalten. Und dieser Ort, das Land meiner Vorfahren! Tagelang kann man durch die Täler des Schwarzwaldes wandern, ohne eine Menschenseele zu treffen. Ich spüre es, tief in diesen Wäldern leben noch Elfen und Feen, die mir den Weg in eine andere Welt weisen werden. Und wenn nicht sie, so die Flussgeister und Nixen des Rheins, dessen verzweigte Arme ich beinahe täglich mit dem Boot erkunde.“

Doch die Jahre vergingen und Balthazars Suche blieb erfolglos. Bis ihn eines Tages die Nachricht eines alten Freundes erreichte, der von einer Expedition des ACE nach Afrika zurückgekehrt war:

„Wohin man hier auch kommt, erzählen sich die Menschen Geschichten über eine mächtige Herrscherin von unvergleichlicher Schönheit, die im Herzen des Dschungels regiert. Manche behaupten, sie sei eine Dämonin. Andere verehren sie als Göttin, als höheres Wesen aus einer anderen Welt: Sie, der man gehorchen muss.“

Konnte dies die „andere Welt“ sein, die er suchte? Und war jene mysteriöse Herrscherin der Schlüssel dazu? Als ihn der Freund bald darauf persönlich aufsuchte und ihm ein geheimnisvolles Artefakt mitbrachte, erkannte er es sofort: Es war eine kunstvolle Brosche in Form eines Ouroboros, einer Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt. Dasselbe Symbol war auch in einer kostbaren, alten Handschrift in seinem Besitz abgebildet, die ebenfalls von einer legendären Königin im Herzen Afrikas berichtete. Der Text enthielt eine Beschreibung, wie man in ihr Reich gelangen konnte! Die beiden brachen umgehend auf nach Afrika und erreichten nach großen Strapazen ihr Ziel. Balthazar notiert dazu in seinem Tagebuch:

„Nun also stand sie leibhaftig vor uns: Sie, der man gehorchen muss. Im Schein des Vollmonds vollführte sie ein Ritual. Welche Wirkung sie auf die Menschen hat! Die einen zieht sie unwiderstehlich in ihren Bann, sie ist ihnen die Erlöserin, die in diesen dunklen Zeiten das Licht bringt. Die anderen verdammen sie als Verführerin, die uns ins Verderben stürzen wird. Doch in Wahrheit ist sie weder gut noch böse. Sie steht über den Dingen, ist über diese profanen menschlichen Urteile erhaben.“

Wie Balthazar ihr Vertrauen gewinnen konnte, dazu schreibt er nichts. Aber er zeigt sich beseelt:

„Sie hat sich mir offenbart! Mir! Im Laufe der Jahrhunderte nannte man sie Lilith, Venus, Königin von Saba. Mir jedoch verriet sie ihren wahren Namen: Myra.

Sie gewährte mir Zutritt zu jener höheren Welt, die ich so lange suchte. Denn Myra ist zugleich Hüterin des Portals und der Schlüssel dazu. Es ist ein Ort außerhalb von Raum und Zeit, wo die Gesetze unserer sterblichen Welt außer Kraft sind. Dort gibt es weder Vergangenheit noch Zukunft, nur ewige Gegenwart. Weder Gut noch Böse, kein Richtig und kein Falsch, nur einen Zustand reinen Seins. Eine Sphäre der Schönheit und Verzückung, wo alle Zwänge von uns abfallen. Die Alten nannten diesen Ort: EDEN.“

Allerdings schwebte EDEN in Gefahr. Ein empfindliches Gleichgewicht verband es mit der Welt der Menschen: EDEN konnte nur so lange existieren, wie in unserer Welt die Magie und der Glaube an das Wunderbare stark waren. Beides aber schwand mit jedem Tag. Mit dem Aufkommen der Moderne schritt die Entzauberung des Lebens voran. Vernunft, Berechenbarkeit und Effizienz waren nun das, was zählte. Für das Magische blieb weder Zeit noch Raum. Die Menschen verloren mehr und mehr die Bindung zum Ursprünglichen, zu all den Naturgeistern und Fabelwesen, mit denen sie früher in Einklang gelebt hatten. Zugleich strebten neue Kräfte an die Macht, die entschlossen waren, alle Wunder der Welt bis zur Zerstörung auszubeuten.

Wenn aber das Übernatürliche und damit die Magie in unserer Welt ausstarb, so hätte dies auch das Ende von Eden bedeutet. Darum gründeten Balthazar und Myra mit einer Handvoll enger Vertrauter aus dem ACE eine Geheimgesellschaft, die sich dem Schutz dieser Wunder verschrieb. Sie schufen auf Balthazars Landsitz ein Refugium für magische Wesen, wo diese Zuflucht fanden und sich wieder frei entfalten konnten. Sie nannten diesen Ort das EDEN Manor.

Mit der Zeit versammelten sie zahlreiche mystische Wesen um sich und auch die Zahl der menschlichen Mitstreiter wuchs stetig. Sie hielten regelmäßig Versammlungen ab, ausgelassene Abende, an denen sie zu Myras Ehren die Schönheit, Sinnlichkeit und das Wunderbare zelebrierten, um den Geist von EDEN am Leben zu erhalten.

Es heißt, dank seiner Aufenthalte in EDEN vergehe für Balthazar die Zeit anders. Bis heute wache er über das EDEN Manor, doch gebe er seine wahre Identität nie preis. Fremde, die sich dorthin verirren, berichten von einem höflichen, ungewöhnlich eleganten und vielleicht etwas altmodischem Herrn, der sich als Gärtner ausgibt, und sie mit einem verschmitzten Lächeln in das Gewächshaus des Anwesens führt. Dort werden sie Zeuge einer gleichsam illustren wie exzentrischen Abendgesellschaft und deren ausschweifender Feiern. Wer dabei die Prüfungen der Geheimgesellschaft besteht und sich als würdig erweist, dem mag das Privileg zuteilwerden, ebenfalls Zutritt zu Myras Welt zu erlangen – zu EDEN.